Vinpocetin

Beschreibung

Vinpocetin (Ethylapovincaminoat) wurde Ende der sechziger Jahre aus Vincamin synthetisiert, einem aus den Blättern von Vinca minor (Kleines Immergrün) extrahierten Alkaloid.(1) Vinpocetin kam 1978 unter dem Handelsnamen Cavinton auf den Markt und wird seither in Japan, Ungarn, Deutschland, Polen und Russland häufig zur Behandlung zerebrovaskulärer Erkrankungen eingesetzt.(2) Die neuroprotektive Wirkung der Substanz wurde durch mehrere klinische Studien bestätigt.

Pharmakokinetik

Im Nüchternzustand beträgt die Resorptionsquote von Vinpocetin 6,7 Prozent.(3) Bei Einnahme während der Mahlzeiten verbessert sich die Resorption um 60–100 Prozent. In beiden Fällen gelangt Vinpocetin etwa eine Stunde nach der Verabreichung in die Blutbahn.(4) Die Eliminationshalbwertszeit bei der oralen Darreichungsform beträgt ein bis zwei Stunden; innerhalb von acht Stunden wird Vinpocetin nahezu vollständig aus dem Organismus ausgeschieden.(3)

Neuere Studien, in denen die Wirkungen von intravenösen Vinpocetin-Infusionen bei Patienten mit zerebrovaskulären Störungen geprüft bzw. mit Vinpocetin behandelte Tiere mittels Positronenemissionstomographie (PET) untersucht wurden, konnten zeigen, dass die Substanz die Blut-Hirn-Schranke passiert und in das Hirngewebe aufgenommen wird.(5,6) PET-Studien liefern zudem klare Belege dafür, dass Vinpocetin beim Menschen bevorzugt im Zentralnervensystem resorbiert wird: Die ZNS-Konzentration ist zweimal höher, als es aufgrund der Verteilung im Gesamtorganismus zu erwarten wäre.(7) Orte der höchsten Vinpocetinaufnahme sind Thalamus, Putamen und verschiedene Regionen des Neocortex.

Wirkungsmechanismen

Für die antioxidativen, gefäßerweiternden und neuroprotektiven Wirkungen von Vinpocetin sind offenbar mehrere unterschiedliche Mechanismen verantwortlich.

Blockade spannungsabhängiger Natriumkanäle

Es wurde die These aufgestellt, dass der Nutzen von Vinpocetin bei ischämischem Apoplex aus seiner Wirkung auf die spannungsabhängigen Natriumkanäle im Gehirn resultiert.(8) Die Blockade dieser Kanäle im Nervengewebe ist der Hauptwirkungsmechanismus mehrerer verschiedener Substanzen, die bei experimentell induzierter Ischämie eine neuroprotektive Wirkung gezeigt haben.(9) Dieser Effekt, der die Natriumakkumulation in den Neuronen wirksam blockiert, verringert das Ausmaß von Reperfusionsschäden und die toxischen Wirkungen von anoxiebedingtem oxidativem Stress.(10)

Hemmung der Phosphodiesterase Typ 1

Vinpocetin hemmt die Ca2+/Calmodulin-abhängige Phosphodiesterase (PDE) vom Typ 1.(11) Theoretisch führt dies zu einem Anstieg von cAMP in Relation zu cGMP. Die verbesserte Hirndurchblutung und die Verminderung der Thrombozytenaggregation, die unter Vinpocetin beobachtet werden, sind möglicherweise auf diesen Prozess zurückzuführen.(12)

Antioxidative Wirkungen

Ebenso wie Vitamin E ist Vinpocetin ein potenter Fänger von Hydroxyl-Radikalen.(13) Vinpocetin hemmt nachweislich die Lipidperoxidation in aus Rattenhirn gewonnenen Synaptosomen und schützt Versuchstiere vor den Folgen von globaler Anoxie und Hypoxie. In Tiermodellen mit experimentell erzeugter Ischämie reduzierte Vinpocetin die Ausdehnung der neuronalen Nekrose um bis zu 60 Prozent.(10)

Andere neuroprotektive Wirkungen

Studienergebnissen zufolge schützt Vinpocetin Neuronen gegen die toxischen Wirkungen von Glutamat und N-Methyl-D-Aspartat (NMDA).(14) Bei Patienten mit zerebralen Durchblutungsstörungen verringert Vinpocetin die Blutviskosität.(15) Darüber hinaus bewirkt es eine signifikante Gefäßerweiterung,(16) vermindert die Thrombozytenaggregation(17) und erhöht und erhält bei oxidativem Stress die Erythrozytenflexibilität.(18) All diese Eigenschaften sind bei zerebrovaskulären Erkrankungen potenziell von Nutzen. Vinpocetin bewirkt zudem einen selektiven Anstieg der Hirndurchblutung und eine Erhöhung der zerebralen Stoffwechselrate.(19,20)

Klinische Indikationen

Chronische Störungen der Hirndurchblutung

Wie zwei PET-Studien an chronischen Schlaganfallpatienten belegen, steigert Vinpocetin signifikant die Aufnahme und Verstoffwechselung von Glukose in den intakten kortikalen und subkortikalen Hirnarealen, und zwar insbesondere in der Umgebung der geschädigten Regionen.(21) In einer Studie, an der 15 Patienten mit chronischer zerebraler Ischämie teilnahmen, konnte nach zweiwöchiger Anwendung von Vinpocetin eine signifikante Steigerung des zerebralen Blutflusses in der nicht läsionierten Hemisphäre erzielt werden.(10) Neuere Studien, in denen die Hirndurchblutung bei Patienten mit chronischen zerebralen Durchblutungsstörungen mittels Dopplersonografie und Nahinfrarot-Spektroskopie untersucht wurde, dokumentieren eine verstärkte Perfusion der Arteria cerebri media nach einmaliger Vinpocetin-Infusion.(10)

Akuter ischämischer Insult

Im Rahmen kleinerer Studien konnte demonstriert werden, dass Vinpocetin eine vasodilatierende Sofortwirkung auf die Hirngefäße aufweist.(10) In einer Meta-Analyse der bis heute vorliegenden Untersuchungen war es hingegen nicht möglich, Aussagen über den Einfluss von Vinpocetin auf die kurz- und langfristige Mortalität von Schlaganfallpatienten zu machen.(2) Von den acht analysierten Studien an Patienten mit akutem Apoplex (die innerhalb von zwei Wochen nach dem Ereignis Vinpocetin erhielten) erfüllte nur eine die Einschlusskriterien der Meta-Analyse. In der betreffenden Studie wurden acht von 17 Patienten der Vinpocetin-Gruppe und zwölf von 16 Patienten der Plazebogruppe drei Wochen nach Beginn der intravenösen Vinpocetin-Gabe als „abhängig" (nicht überlebensfähig ohne fremde Hilfe) eingestuft. Alle Patienten waren am Leben. Die Autoren der Meta-Analyse konnten die positive Wirkung von Vinpocetin nicht definitiv bestätigen; sie gelangten aber zu dem Schluss, dass aufgrund der vorliegenden Ergebnisse von In-vitro-Untersuchungen und Tierstudien von einem potentiellen Nutzen der Vinpocetin-Therapie bei akutem Apoplex auszugehen ist. Weitere Studien mit geeignetem Design sind dringend erforderlich.

Altersbedingte degenerative Hirnfunktionsstörungen

Eine Meta-Analyse von sechs randomisierten und kontrollierten Studien an insgesamt 731 Probanden mit seniler degenerativer zerebraler Dysfunktion ergab, dass die Verabreichung von Vinpocetin eine hochwirksame Therapie dieser Störungen ermöglicht. Neben physischen Parametern (sprachliche und motorische Fähigkeiten, Muskelkoordination und -stärke, sensorische Wahrnehmung) wurden dabei verschiedene psychometrische Testskalen herangezogen. Die Autoren konnten einen hoch signifikanten Effekt von Vinpocetin sowohl auf die kognitiven als auch auf die motorischen Funktionen der Patienten nachweisen.(22)

Alzheimer-Krankheit

Zur Wirksamkeit von Vinpocetin bei der Alzheimer-Krankheit liegt bislang nur eine offene Pilotstudie mit kleinen Fallzahlen vor. Deren Ergebnisse sprechen allerdings dafür, dass eine Supplementation mit Vinpocetin keine wirksame Therapie der Alzheimer-Krankheit darstellt: Die plazebokontrollierte Doppelblindstudie an 15 Alzheimerpatienten, die ein Jahr lang Vinpocetin in ansteigender Dosierung (30, 45 und 60 mg/die) erhalten hatten, ergab keine Besserung der Symptomatik.(23)

Tinnitus/ Menière-Krankheit/ Sehstörungen

Vinpocetin ermöglicht die erfolgreiche Behandlung von akustischen Traumata mit anschließendem Hörverlust und Tinnitus.(24) Der Tinnitus verschwand bei 50 Prozent der Patienten, die innerhalb einer Woche nach dem Ereignis mit der Einnahme von Vinpocetin begannen. Unabhängig von der Zeitspanne zwischen Trauma und Therapiebeginn verbesserte sich bei 79 Prozent der Patienten das Hörvermögen. Bei 66 Prozent ging der Schweregrad des Tinnitus signifikant zurück. Auch die Menière-Krankheit sowie arteriosklerotisch bedingte Sehstörungen lassen sich mit Vinpocetin wirksam behandeln.(25,26)

Wechselwirkungen mit Arzneimitteln

Da Vinpocetin die Thrombozytenaggregation vermindert, sollte es nicht gleichzeitig mit blutverdünnenden Medikamenten angewendet werden.

Sicherheit/Toxizität

Einige Studien berichten über das vereinzelte Auftreten von flüchtigen Hautausschlägen, Flushing oder leichten gastrointestinalen Beschwerden; ein Abbruch der Behandlung wegen dieser Nebenwirkungen war jedoch in keinem Fall erforderlich.(22)

In einer anderen Studie wurden auch bei Einnahme höherer Dosen (dreimal täglich 20 mg) keine signifikanten Nebenwirkungen registriert.(23)

Dosierung

In allen genannten Untersuchungen wurde Vinpocetin entweder oral (10 mg dreimal täglich) oder intravenös verabreicht. Bei den Patienten mit chronischen zerebrovaskulären Erkrankungen, die in die Meta-Analyse (22) einbezogen wurden, betrug die Vinpocetin-Dosis 10 mg oral dreimal täglich.